Monthly Archives: Juni 2021

Burggeschichten

Auf einer Burg

Eingeschlafen auf der Lauer

Oben ist der alte Ritter;

Drüber gehen Regenschauer,

Und der Wald rauscht durch das Gitter.

Eingewachsen Bart und Haare,

Und versteinert Brust und Krause,

Sitzt er viele hundert Jahre

Oben in der stillen Klause.

Draußen ist es still und friedlich,

Alle sind ins Tal gezogen,

Waldesvögel einsam singen

In den leeren Fensterbogen.

Eine Hochzeit fährt da unten

Auf dem Rhein im Sonnenscheine,

Musikanten spielen munter,

Und die schöne Braut, die weinet.

Joseph von Eichendorff, 1788–1857

Ursula schenkt uns diesen Blick aus einer Burg

Hirnerweichung

Heute geht der Kurs für die angehenden Heilpraktiker, beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie, zu Ende. Der zweite Kurs, der zwischen Präsenz- und Online wegen der Pandemie hin- und hergeswitcht ist.

Wir stellen eine Ausbildungsmüdigkeit fest. Entweder haben die Menschen keine Lust mehr, sich aufwändige und tiefgreifende Ausbildungen aufzuladen, weil „eh alles den Bach runtergeht“ (genau deswegen könnte das so geschehen) oder sie möchten entspannt und mit einem Glas Wein (!) daheim auf der Couch sitzen und sich Bildungsformate reinziehen.

Das hat Schattenseiten. Auf der Couch sitzend lernen wir nicht. Um etwas wahrhaft greifbar und einsetzbar mit Verantwortung für andere Menschen zu erarbeiten, muss man sich nach wie vor auf den Hosenboden setzen und dafür sorgen, dass es Formen der Überprüfung gibt: Habe ich den Lehrstoff wirklich verstanden? Kann ich ihn mit eigenen Worten erklären? Kann ich die Übungen anwenden, weil ich sie in einer Gruppe (auch das geht online problemlos) nicht nur einmal, sondern zigmal trainiert habe? Kein Mensch tritt bei Olympia an und hat sich gerade die ersten Laufschuhe seines Lebens besorgt, oder?

Der Grund für unsere Übefaulheit und Couchhockerei ist einfache Chemie: Wenn wir uns durch die Welt klicken, bedienen wir unser Belohnungszentrum im Gehirn mit Dopamin. Das freut das System. Der Haken daran: Dopamin sorgt leider nicht dafür, dass wir unseren Hintern bewegen und das, was wir „konsumiert“ haben, auch zu earbeiten, umzusetzen, zu üben und in die Welt zu tragen.

Das ist Käse? Dann lege doch gern mal für ein paar Tage deinen Taschenkobold weg. Bleib allen Medien fern. Beobachte – wie lange kann ich mich am Stück problemlos konzentrieren? Werde ich aggressiv, wenn ich nicht aufs Handy schauen darf? Stelle ich nach drei Minuten Lernen oder Arbeiten fest, dass ich mal schnell die Mails checken muss? All das ist inzwischen krasse Realität. Ohne dass es die meisten bemerkt haben, sind sie in eine knallharte Abhängigkeit gerutscht von ihren asozialen Medien, ihren Handys und andren Spielzeugen.

Die Folge: massive Konzentrationsprobleme. Ablenkbarkeit ohne Ende. Die schlimmste Folge: Wir erleben nicht mehr, dass wir ganz in unserer Arbeit aufgehen. Wir sind nicht mehr so drin in unserem Tun, dass wir gar nicht wahrnehmen, wie die Zeit vergeht, weil wir wie Kinder, die spielen, hundert Prozent bei dem sind, was wir tun. So nehmen wir uns Stück für Stück Freude und damit Lebendigkeit. Unbemerkt rutschen wir in eine negative Stimmung hinein.

Wer nur am Bildschirm sitzt und irgendetwas konsumiert, ohne sich dafür wirklich hinzusetzen, zu üben, zu lernen und sich den Stoff auf vielfältige Weise zu erarbeiten, vergisst 99 Prozent des Gehörten in kürzester Zeit, weil der nächste Input draufgepackt wird, ohne dass die „Daten gründlich und greifbar gespeichert wurden“.

Wir trudeln bedenklichen Zeiten unbemerkt entgegen.

Online-Formate können wirklich super sein. Ich konnte in den letzten Monaten an Ausbildungen teilnehmen, die mir aufgrund der Entfernung vorher niemals möglich gewesen wären. Allerdings ist mir absolut bewusst, dass ich selbst verantwortungsvoll dafür sorgen muss, dass der Stoff wahrhaftig erarbeitet ist. Dafür lerne und übe ich in einem kleinen Team von Menschen, die mit mir diese Ausbildung machen. Wir haben feste Arbeitszeiten installiert. Wir haben eine Struktur, einen Plan und geben uns Feedback. So vertiefen wir, was wir uns selbst erarbeitet haben, stützen uns gegenseitig und haben gleichzeitig tolle Übemöglichkeiten. Unsere Schüler haben diese Möglichkeit ebenfalls, sie sind automatisch in einer geschützten Übegruppe, wo sie Gleichgesinnte finden und super arbeiten können. Allerdings erwarte ich von Menschen in den Kursen, dass sie selbstständig in der Lage sind, solche Angebote zu nutzen und sich zu engagieren. Wie wollen wir denn für Klienten Vorbilder sein, wenn wir uns selbst nicht im Griff haben?

Beobachte dein tägliches Verhalten und lass es dir von deinem Hirntöter anzeigen: wie viele Stunden bist du jeden Tag in den Medien unterwegs? Kannst du dich eine längere Zeit gut auf eine schwierige Aufgabe konzentrieren oder switcht du permanent zwischen zig Sachen hin und her? Ist dir das überhaupt schon aufgefallen, was sich da meistens unbemerkt entwickelt hat? Du dir damit jede Lebensfreude langfristig nimmst?

Prüfe dich ehrlich. Und verändere auf der Stelle etwas, wenn du merkst, welche Macht deine technischen Spielzeuge über dich haben. Und dann kannst du problemlos gut Kurse besuchen. Online und als Präsenzkurs. Das Arbeiten mit Menschen lernt man nur durch Arbeiten mit Menschen.

 

Allen einen erkenntnisreichen Freitag.

 

 

Diese friedliche Landschaft hat Steffi im Bild festgehalten. Augenferien für euch von Herzen.

Mohnträume

Der Mohn

 

Wie dort, gewiegt von Westen,

Des Mohnes Blüte glänzt!

Die Blume, die am besten

Des Traumgotts Schläfe kränzt;

Bald purpurhell, als spiele

Der Abendröte Schein,

Bald weiß und bleich, als fiele

Des Mondes Schimmer ein.

Zur Warnung hört ich sagen,

Dass, der im Mohne schlief,

Hinunter ward getragen

In Träume schwer und tief;

Dem Wachen selbst geblieben

Sei irren Wahnes Spur,

Die Nahen und die Lieben

Halt‘ er für Schemen nur.

In meiner Tage Morgen,

Da lag auch ich einmal,

Von Blumen ganz verborgen,

In einem schönen Tal.

Sie dufteten so milde!

Da ward, ich fühlt es kaum,

Das Leben mir zum Bilde,

Das Wirkliche zum Traum.

Seitdem ist mir beständig,

Als wär es nur so recht,

Mein Bild der Welt lebendig,

Mein Traum nur wahr und echt;

Die Schatten, die ich sehe,

Sie sind wie Sterne klar.

O Mohn der Dichtung! wehe

Ums Haupt mir immerdar!

Ludwig Uhland, 1787–1847

Das Papaver-Palaver hat Steffi fotografiert! Lieben Dank!

Willkommen im Abenteuerland

Gestern hatte ich gleich mehrere spannende Gespräche mit Klienten über die Frage, wie unsere Zukunft ausschauen könnte. Mir scheint, dass es viele Menschen nicht mehr wagen, über Zukunft nachzudenken, weil sie letztes Jahr erlebt haben, dass von einer Sekunde auf die andere die Welt eine andere werden kann. Deshalb halten viele Menschen eine positive Entwicklung nur noch in dem Sinn für möglich, dass wir nun wieder mehr reisen dürfen und die Geschäfte wieder öffnen.

Ein Paradigma ist etwas, das wir unhinterfragt glauben, weil es alle mantrisch wiederholen. Das macht doch Annahmen nicht wirklich wahr! Was sollen Formulierungen wie „wie soll denn die Jugend noch an eine gute Zukunft glauben“ oder „wer weiß, wo das hinführt“. Das ist Geschwätz, nervig und dazu falsch! Keiner weiß, wo irgendwas hinführt außer Straßenplaner, so sie nicht in Island leben (da werden Straßen verlegt, wenn der Elfenbeauftragte sein Veto einlegt, was ich für enorm klug halte). Zukunft ist open space, nicht kein lost place.

Es ist höchste Zeit, dass wir mal ein paar unserer seltsamen Paradigmen krass hinterfragen. In allen Bereichen! Bildungssystem? Überholt, nicht zukunftsgerecht. Engagierte Lehrerinnen und Lehrer geben ihr Herzblut und kommen kaum dazu, ihre Visionen für eine bessere Bildung umzusetzen. Lehrpläne richten sich nach wie vor an „schneller, höher, weiter“ aus, anstatt an Werten, Ethik, der Fähigkeit, selbstständig und tiefgründig zu denken, statt Kunst, Kultur und Glück, Achtsamkeit, Sinnhaftigkeit, Menschlichkeit und soziales Miteinander on top zu setzen.

Wirtschaft? Viele Riesen, tapfere kleine Betriebe, fehlender Mittelstand. Ist so, als bestünde ein Haus aus Keller, vier Eckpfosten und einem extrem überladenden Dach. Sieht nicht sonderlich haltbar aus, oder? Vertrauenerweckend? Nope.

Gesellschaft? Generationenvertrag? Religionen? Was bedeutet Arbeit für uns? Wie gehen wir mit der Tendenz um, dass sich die Work-Life-Balance permanent Richtung Life bewegt, weil Arbeit von vielen nicht als wichtiger Identitätsfaktor gesehen wird, sie nicht mit dem Herzen arbeiten, sondern dem Gedanken „finanziert mir Miete, Sport und Urlaub und Gott-sei-Dank-Wochenende?“

Wir haben eine Zukunft. Und zwar eine der spannendsten in der Menschheitsgeschichte. Nie zuvor war es möglich, quasi in Echtzeit Verbindungen zwischen vielen Menschen rund um den Planeten zu bekommen, um Zukunft gemeinsam zu gestalten. Es gibt nur eine Sorte Menschen, jenseits von Hautfarbe, Sprache, Kultur und Religion. Wir müssen es schaffen, jenseits dessen, was uns trennt, gemeinsam zu schauen, wie wir die Planetenfragen klären, damit alle folgenden Generationen einen Heimatplaneten haben. Wir sind eingeladen, vollkommen cokreativ alle Bereiche anzugehen. Global und dann jedes Land für sich in seinen Umwandlungsprozessen, die sich danach richten, was not-wendig ist.

Das ist die große Abenteuerlandschaft. Die kleine liegt bei jedem selbst. Stell dir vor, dass du entscheidend mit dazu beiträgst, dass die Welt ein besserer Ort wird – du bist das Zünglein an der Waage! Genau du! Was also kannst du jeden Tag tun, damit du diesem Ziel gerecht wirst? Fang klein an. Du kannst Müll trennen. Du kannst Freundlichkeit und nicht werten üben. Du bist eingeladen, Dinge zu unterstützen, die in eine gute Zukunft weisen und abzulehnen, was andere schwächt, runterzieht und verletzt. Du hast täglich viele Wahlmöglichkeiten.

Wir wissen alle nicht, wie die Zukunft wird. Was also, wenn alles machbar wäre? Wie wäre die beste Version dieser Zukunft und wie brechen wir das runter bis zu dir und mir? Ist das nicht alles unglaublich aufregend und spannend? Möglichkeiten und neue Wege brauchen Chaos. Wir leben in den Geburtswehen einer neuen Zeit, das geht nicht schmerzfrei. Chaos aushalten ist eine gute Herausforderung. Willkommen im Abenteuerland, auf Wiedersehen Komfortzone. Hast du deine Mutschuhe an? Dann geht’s los. Wag den ersten Schritt.

Allen einen freudigen Jupitertag!

 

Das tränende Herz hat Steffi für uns fotografiert. Herzlichen Dank!

Her mit dem Perspektivwechsel!

Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache.

Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit.

Mark Aurel, 121–180

Eine Perspektive im warmen Sonnenlicht von erhöhtem Platz aus verschafft Übersicht. Danke, Theresa, für dein Foto!

Verrückt

Lessing hat die passende Aufforderung für einen Merkurtag – mach mal was Ungewöhnliches. Lies mal was, was sonst keiner liest (z.B. Platons Phaidon oder das Gilgamesch-Epos, nur so als Tipp, falls du es nicht längst gelesen hast). Denk mal was, was sonst keiner denkt (ich sage nur – #LTC, das ist für euch!!! – first principle Denken). Mach was, was sich kein Mensch traut (ich tanze ohne jeden Grund. Offiziell nenne ich es natürlich Stressentlastung, in Wahrheit macht es Spaß).

Und Lessing legt noch eines drauf: Es ist schlecht für den Geist, Teil der Einmütigkeit zu sein. Lessing drückt sich sehr freundlich aus. Ich hätte es Einfältigkeit genannt und manche hätten sich gefreut, wenn sie nur eine Falte hätten (unsere Sprache kann uns auf manche vertrackte Fährte führen).

Was war das Ungewöhnlichste, was du in der letzten Zeit so gemacht hast? Ich meine, wirklich und wahrhaftig verrückt, nicht um 22.01 noch einen kurzen Ausfallschritt auf die Straße gemacht bei Ausgangssperre? Warum machst du nix Verrücktes mehr? Schon zu erwachsen? Ich hab am Wochenende ausprobiert, ob man noch immer mit Plastiklinealen (sorry, aber Holz geht da nicht) Papierkügelchen schießen kann. Geht! Ich war um halb fünf frühs im Garten, weil da die Viecher nicht stechen. Geht! Ich habe Matchatee in Sprudel eingerührt. Geht, schmeckt aber grauenvoll. Du so?

Ich will ja jetzt absolut nicht schuld dran sein, wenn ihr was macht und lachen müsst. Gott bewahre! Das wäre ja nahezu infantil, unangemessen und der Schicksalsschwere der Zeit nicht gerecht. Aber geht halt mal wenigstens 20 Meter rückwärts, singt hinter eurer Maske in der Straßenbahn oder esst eine gewagte Eiskombination. Balanciert auf einem Bein und trinkt dabei einen Kaffee. Schreibt einen total überraschenden Liebesbrief. Steckt eine crazy Postkarte in den Briefkasten. Schenkt einem griesgrämigen Menschen einen Smiley. Sagt, heute sei der Tag des kleinen verrückten Glücks. Einfach so. Wegen Mittwoch. Und sorry. Der Matcha wirkt. Ich bin ganz grundlos heiter, auch wenn ich nicht mit der Aerolatte hätte rühren sollen, das Glas war zu voll. Jenseits aller Logik kann spontan Freude keimen. Für euch! Hier – eine dicke Ladung Froh-Sinn.

Allen einen schönen Merkurtag. Das Augenerholungsfoto hat Theresa für uns gemacht. Danke dir!

Was sonst keiner macht

Lies jeden Tag etwas, was sonst niemand liest. Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt. Tue jeden Tag etwas, was sonst niemand albern genug wäre, zu tun.

Es ist schlecht  für den Geist, andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.

Gotthold Ephraim Lessing, 1729–1781

Die gemütliche Bank unter dem Kastanienbaum hat Dieter Oberhollenzer fotografiert. Danke zu dir!