Marie von Ebner-Eschenbach hat etwas beobachtet, was wir aus unserem eigenen Leben kennen: Wenn Menschen in die Überforderung kommen, treten oft erstaunliche Dinge zutage – sie wachsen über sich hinaus, bewältigen Herausforderungen auf eine Weise, die man nie für möglich gehalten hätte oder umgekehrt, starke Menschen können auch zusammenbrechen und aufgeben, sich und andere, weil ihre Kraft aufgezehrt ist.
Wie gehen wir mit Schicksalsschlägen um? Ich glaube, dass wir das im Vorfeld bei vielem nicht wissen können. Wie würden wir reagieren, wenn wir vom Arzt hören: „Besorgen Sie Ihre Angelegenheiten, Sie haben vielleicht noch drei Monate.“, oder wenn geliebte Menschen sterben, das über alles geherzte Haustier eingeschläfert werden muss, wir Haus und Hof aus welchen Gründen auch immer verlieren? Niemand kann das wissen, wie wir dann reagieren, damit umgehen und auf welche Weise wir das tun.
Etwas Wichtiges haben solche Überlegungen durchaus: Sie zeigen uns etwas auf, was wir in unserer Gesellschaft ganz weit weg schieben und was die letzten Monate jedoch stärker ins Blickfeld gerückt haben, das „Memento mori“. Bedenke, dass du sterblich bist. Im Mittelalter gab es den Dance macabre, den Totentanz, oft an Kirchenmauern aufgemalt als Sinnbild, dass der Tod alle gleich behandelt, egal, ob Kaiser oder Bettelmann. Wir leben heute oft so, als wäre der Tod weit weg, dabei geht er vom Moment unserer Geburt an neben uns und wartet geduldig auf die Stunde, die für uns vorgesehen ist. Der Tod erinnert uns an die Kostbarkeit jedes gelebten Moments.
Wie würden wir leben, wenn wir das memento mori bewusster hätten? Wie würden deine Entscheidungen heute ausfallen, wenn du wüsstest, wie begrenzt die Lebenszeit vielleicht noch ist? Was würdest du tun, wenn dir klar wäre, dass es darauf ankommt, zu tun, was du liebst und gut darin zu sein und nicht, um für den nächsten Urlaub was zu haben? Welche Menschen bedeuten dir etwas und du tust gut daran, diese Beziehungen zu pflegen und ihnen zu danken für das, was sie für dich bedeuten?
In den letzten 10 Monaten haben wir innerhalb der Familie viel mitgemacht, was man mit schwerkranken, alten und behinderten Menschen so erleben kann. Wir begleiten die Eltern und sehen täglich, wie krass das sein kann, wenn Fähigkeiten verschwinden, Kräfte rasant weniger werden, der Wille nicht mehr ausreicht, das Gehirn seine Fähigkeit verliert, bewusst Entscheidungen zu treffen. Und wir sehen, was geschieht, wenn man nicht loslassen kann, sich nicht vertrauensvoll in die Hände von helfenden Menschen begeben kann, weil „ich das selbst noch machen kann“.
Ja, es ist eine Gratwanderung zwischen „ich kann es noch“ und „kannst du mir helfen?“ Es ist nicht schlimm, sich helfen zu lassen, es ist schlimm, sich das nicht eingestehen zu können und darauf zu bestehen, dass Dinge so erledigt werden, wie sie es gewohnt sind und übersehen, dass andere Menschen auch noch ihr Leben haben, es denen vielleicht nicht wichtig ist, dass man Unterhosen von allen Seiten bügelt (sic!). Da prallen Welten aufeinander.
Es ist ein Jahr der extremen Herausforderungen und Reibungen bisher. Und wie es in den letzten Jahren auch schon zu beobachten war – je mehr das Jahr sich dem Ende zuneigt, desto mehr verschlechtern sich die Dinge, wird der Tonfall härter, krasser und die Herausforderungen explodieren.
Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Wir pendeln zwischen Verantwortung und Genervtsein, Überforderung und dem Wunsch, nicht ans Telefon zu gehen. Vielen geht es so mit ihren Familien, es wird nur so gern überpinselt von „bei uns ist das kein Thema, das haben wir super gelöst“. Manchmal ist es wirklich so, das setzt voraus, dass die Senioren weise im Vorfeld schon gehandelt haben und erkennen, wann Versorgung durch andere Menschen nötig ist und das dann auch annehmen können. Schön, wenn es funktioniert.
Das tut es bei uns nicht und bei vielen anderen auch nicht. Gute Allgemeinlösungen gibt es nicht. Wir halten es so: Wir stellen uns den täglichen Herausforderungen und lösen die Fragen, wenn sie da sind, damit wir nicht in ungesunde Szenarien verfallen. Und machen uns bewusst, dass wir neben diesen Themen und Herausforderungen unsere Berufsalltage haben, unsere eigene Familie und Beziehung. Klar laufen manche Dinge auf totaler Sparflamme, wenn die Prioritäten woanders liegen, Leben ist jedoch stets mehr als nur Bürde und Last. Es ist auch der Zauber eines Moments, ein Witz, der erzählt wird, ein gutes Lied, das irgendwo läuft.
Oder was mir heute Morgen im Nieselregen geschenkt wurde: Zwei Rettungswagen hielten lautstark am Straßenrand unter der alten Mainbrücke, der Nieselregen kroch ungemütlich in die Kleider, der Wind pfiff oben auf der Brücke, unzählige Schulkinder rannten, um pünktlich anzukommen, viele andere liefen hastig zur Arbeit mit Kaffeebechern in der Hand. Eine sehr alte Frau schob ihren Rollator vor sich her. Sie hatte keinen Schirm und lange weiße Haare. Sie trug einen Rock und eine Jacke in Blau und war ein wenig zu dünn angezogen. Sie konnte nur langsam gehen zwischen all den eiligen Radlern, Fußgängern und Hastern. Sie schaute mich an und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Ich lächelte zurück und hatte für einen Moment das krasse Gefühl, das Goethe einst hatte, als er sich, auf dem Pferd reitend, selbst begegnete in einer Zukunftsversion. Ein Moment, in dem die Welt stillstand und Frieden und Ruhe herrschten. Da halten sich dann irgendwelche Anrufe kurz danach mit neuen Diagnosen und Herausforderungen besser aus.
Bist du deinem zukünftigen Ich schon mal begegnet? Gnadenmomente, die erhellend sein können.
Einen zauberschönen Venustag allen mit guten Nachrichten, Begegnungen und Momenten.