Yearly Archives: 2024

Unverhofft

Umzugskisten haben wir schon lange nicht mehr gepackt, unverhofft kommt oft, wenn man Kinder hat. Was sich alles ansammelt und was man alles braucht oder eben nicht – erstaunlich. Es gibt Phasen im Leben, da sind Eltern durchaus als Unterstützung eine Hilfe, vor allem, wenn es eilt. Wir sind da extrem pragmatisch, da wird eben zusammengerückt, bis gute Lösungen gefunden werden und zur Not kommt die Katze obendrauf. Die ist für meinen gehandicapten Bruder höchst suspekt und er beäugt sie vorsichtig und sie ihn. Sie haben Respekt, die Katze vor dem Rollstuhl, er vor 3 Kilo mit Krallen, die aber sehr lebendig und beweglich sind.

Natürlich sind mit Trennungen, Schmerz, Trauer und alles Mögliche verbunden, das gehört dazu. Als Eltern halten wir uns zurück, wir sind da, wenn es nötig ist und geben keine Kommentare ab, denn wir sind nicht in den Beziehungen drin.

Erfreuliche Erfahrung am Rande: Vor lauter Schreck fällt mir abends todmüde das Hörgerät aus der Hand auf den Boden, eine Plastiknase bricht ab, Totaldefekt, nix geht mehr. Medel hat binnen 24 Stunden ein neues Gerät per Kurier geliefert – wow. Und ich bemerkt, wie gut das Hörgerät ist. Dankbarkeit findet sich manchmal an unerwarteter Stelle.

 

Allen ein trennungsfreies, freundliches Wochenende.

Barfußpfade sind etwas Erstaunliches – wir haben die Wahrnehmung über die Füße restlos verlernt.

Was für ein Chaos

Es gibt Wochen, da bin sogar ich mal über das Wochenende froh, weil sich alles überschlägt, Unerwartetes von jeder Ecke kommt und Chaos sich ausbreitet. Im Grunde sind das super lebendige Wochen, denn wenn ich an meine Grenzen komme und denke „nicht auch das noch jetzt!“ ist das durchaus eine Mitteilung des Lebens in mir, das sagt: Wow, Stopp hier, damit alles machbar bleibt. Manchmal kann man ein Stoppschild raushängen, manchmal muss man einfach mal damit leben, dass nicht alles geht, die Wellen über einen schwappen und Luftholen Priorität bekommt. In solchen Wochen weiß man wieder, worauf es wirklich ankommt. Wenn man die Woche irgendwie bewältigt hat und Dinge wieder überschaubarer werden, ist das durchaus ein gutes Gefühl. Es gibt auch in solchen Wochen so viele Highlights, unglaublich! Tolle Momente mit den Klienten, bunte Herbstfarben und heute ein Nachbarskind, das stolz wie Bolle seine Martinslaterne vom Kindergarten an mir vorbeitrug und mich sehr ernst fragte: Hast du deine Laterne noch nicht fertig? Oh Mann. Nein! Auch das noch.

 

Beate hat das tolle Bild gemacht, vielen lieben Dank!

Tage wie dieser

Der Postbote überreicht mir einen Umschlag und sagt: „Die erste Weihnachtspost für Sie“, Werbung für einen Winterzirkus. Offenbar muss ich mit dem sofortigen Ende des Jahres rechnen, nachdem ich gefragt wurde, weshalb ich noch nicht alle Weihnachtsgeschenke habe. Es gibt nur wenig Menschen, die von uns ein Weihnachtsgeschenk bekommen, sie sind entweder sehr alt, krank, gehandicapt oder unsere erwachsenen Kinder, Wir sind eher der Auffassung, dass Weihnachten eine Auszeit ist, in der man sich trifft, gemeinsam isst, trinkt, erzählt, singt und eine gute Zeit hat, fernab von irgendwelchem Prunk und Achtgangmenü. Total okay, wenn das jemand liebt und sich darauf freut, dass der Baum meterhoch und tonnenschwer behangen ist. Wir stellen einen auf die Terrasse, mit Seilen gesichert, mit sturmsicherer Lichterkette eingewickelt, weil wir zwischen den Jahren gern Sturm haben und wegen Pflegefall das Wohnzimmer keinen Platz mehr bietet. Bei uns ist das schlicht, wir tragen weder Weihnachtspullover noch Abendkleider, hier spielt kein Orchester auf, wir singen selbst, quatschen, trinken literweise Tee und futtern selbstgemachte krumme Vanillekipferl, einfaches Buttergebäck, Lebkuchen nach uraltem Rezept und hoffen, dass die Zimtsterne weich genug sind. Da muss ich nicht Jahre im Voraus planen und organisieren. Wer da sein mag, ist da; wer was anderes machen will, macht das. Seit dem Tod der Eltern feiern wir Auszeit von einst starren Abläufen, Ritualen und Fressnarkosen. Sollten wir es vermissen, können wir das ändern. Was uns gefällt am Fest machen wir, alte Zöpfe dürfen gehen.

An einem Tag wie diesem Mittwoch hatte ich ehrlich gesagt andere Sorgen als Weihnachtsfestgestaltung. Aber vielleicht sprachen so viele vom „Fest der Liebe“, weil sie etwas brauchten, das ihnen wieder Halt und Hoffnung gibt.

Trübe diese Tage nicht

O trübe diese Tage nicht,

Sie sind der letzte Sonnenschein,

Wie lange, und es lischt das Licht

Und unser Winter bricht herein.

Dies ist die Zeit, wo jeder Tag

Viel Tage gilt in seinem Wert,

Weil man’s nicht mehr erhoffen mag,

Dass so die Stunde wiederkehrt.

Die Flut des Lebens ist dahin,

Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,

Und sieh, es schleicht in unsern Sinn

Ein banger, nie gekannter Geiz;

Ein süßer Geiz, der Stunden zählt

Und jede prüft auf ihren Glanz –

O sorge, dass uns keine fehlt,

Und gönn‘ uns jede Stunde ganz.

 

Theodor Fontane

Stephanie hat dieses Foto gemacht – herzlichen Dank!

Nein.

Schön war es am Dienstagabend in der Alten Synagoge in Kitzingen. Viele Menschen haben sich eingefunden zum Thema „Neinsagen“. Ja und Nein sind die schwersten Worte, befand Pythagoras. Wir tun uns, vor allem wenn wir weiblich sozialisiert sind, mit dem Neinsagen oft schwer, fürchten Liebesentzug oder dass Menschen schlecht über uns sprechen. Das Gegenteil ist meist der Fall, denn Menschen, die sich klar positionieren, sind respektiert für ihre Haltung. Wer Ja sagt und meint, wer Nein sagt und meint – das ist klar, verlässlich und eindeutig. Keine Diskussion, kein Gequengel. Wir haben das Nein eurythmisch erlebt und festgestellt, dass es fast spielerisch wirkt in der Gestaltung der „N“ und uns wie anstupsen kann mit der Frage: „Meinst du es wirklich so? Dann sag es auch so.“ Das ist sehr hilfreich, wenn uns ein Ja über die Lippen schlüpfen mag und wir uns im nächsten Moment die Zunge dafür abbeißen könnten. Die Erkenntnis, dass zu viele Begründungen ein Nein auch wieder abschwächen, war vielen auch neu.

Wo sagst du Ja, wenn du Nein meinst? Wie fühlt sich das für dich an? Wie wäre es, wenn du das Nein einfach probierst und es nicht wie eine vorsichtige Frage formulierst, sondern einen dicken Punkt dahinter setzt, auch stimmlich? Kleine Hilfe: „Ja.“ und „Nein.“ sind vollständige Sätze, wenns drauf ankommt. Einen mutigen Neintag dir.

 

Ursula hat dieses Foto gemacht, Dankeschön!

Aufs Bauchgefühl hören?

Kennst du das? Du hast ein unkonkretes Gefühl, eine Ahnung, Dinge schon zu erledigen, vorzubereiten, abzuhaken, auch wenn noch gar nicht so richtig die Zeit dafür notwendig wäre. Du machst es einfach, weil du aus Erfahrung weißt – so ein Gefühl bestätigt sich oft. Und dann überrollen dich die Ereignisse und du erkennst, wieso du die anderen Sachen vorbereitet hast. Weil trotz Chaos alles rechtzeitig am Start ist. Da entsteht so eine Dankbarkeit in mir, dass alles trotz sehr viel Unerwartetem Hand in Hand läuft, weil ein Gefühl laut genug war und ich entgegen aller Kopflogik dem Gefühl folgte.

Wenn du irgendwelche Ahnungen hast, Dinge zu tun oder zu lassen, Wege einzuschlagen oder zu vermeiden: Welche Erfahrungen hast du mit deinem Bauchgefühl? Nimmst du es ernst, lauschst du ihm? Gehst du mit deinem Verstand, dem Herzen und diesem Gefühl in Kontakt und triffst dann vielleicht eine andere Entscheidung für den Tag als die ursprüngliche Planung war? Wie stark kannst du dich auf dein Bauchgefühl verlassen? Ist es dir ein treuer Helfer oder stehst du ihm misstrauisch gegenüber?

Einen Tag ohne allzu große Verwirrung zwischen Kopf, Herz, Bauch und Händen dir!

 

Sandra hat uns diese Augenferien gesendet, DANKE.

Sonnenstand

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

 

Johann Wolfgang von Goethe: Urworte. Orphisch

 

Maike hat das tolle Foto geschickt, Danke!

Loslassen und kommen lassen

Manchmal sind Wege versperrt. Wir denken, es geht nicht weiter, das Leben hat uns zu viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, wir sehen keinen Option mehr. Manchmal haben wir alles gegeben, doch es reicht nicht, wir reißen das Ruder nicht mehr herum, haben keine Ideen in petto.

Das sind Momente, in denen es still wird in uns. Alles Tun, alles Rotieren schwingt aus, der Atem wird tief, wir geben etwas aus der Hand, lösen den Griff, der kontrollieren soll und es nicht mehr kann. Es ist kein aufgeben, sondern ein aus der Trance erwachen, es schaffen zu müssen. Es ist wie eine Erlösung, jetzt nichts mehr zu tun, weil getan ist, was in der eigenen Kraft steht.

Vielleicht geschieht Unerwartetes – mit einem Mal öffnet sich eine Tür, die vorher nicht da war. Kommt ein Anruf, der neue Perspektiven eröffnet, liest man etwas, das genau das alles entscheidende Wort in den Kopf setzt. Nun sortiert sich das System, sieht man Dinge klarer und die Frage taucht auf – wo war das alles vorher? Es war da, überdeckt vom Tun, das wir in eine bestimmte Richtung gelenkt haben in der Vorstellung, so müsse es doch gehen.

Am Samstag hatten wir in einer Aufstellung so einen Moment, wo alles losgelassen wurde, sich wendete, neue Erkenntnisse aufschienen. Mit einem Mal sortierte sich, was vorher quer lag, neu. Gestern bei unserem Kurstag über Carl Rogers hörten wir vom Wu Wei, das genau diese Erfahrung beschreibt: ist alles getan, lass los, gib es ab. Schau, was geschieht.

 

Von Herzen eine gute Woche mit Momenten, in denen du ausatmest im Wissen – ich habe alles gegeben, nun darf ich es lassen. Letting go. Dann können Wunder geschehen. Letting come.

 

Danke an Stephanie für das Foto.

Das Licht aus Geistestiefen

Das Licht aus Geistestiefen,

Nach außen strebt es sonnenhaft,

Es wird zur Lebenswillenskraft

Und leuchtet in der Sinne Dumpfheit,

Um Kräfte zu entbinden,

Die Schaffensmächte aus Seelentrieben

Im Menschenwerke reifen lassen.

Wochenspruch für diese Woche aus dem anthroposophischen Seelenkalender.

Stephanie ist in der sächsischen/böhmischen Schweiz unterwegs gewesen und schickt dieses Foto. Danke!

Mach, was andere heute nicht machen können

Was am meisten Liebe in uns weckt, sollen wir tun, rät Teresa von Avila im 16. Jahrhundert. Vor Jahren warb eine Bank „Jeder hat etwas, das ihn antreibt“. Die Japaner nennen es Ikigai, dein Grund, morgens aufzustehen.

Viele stehen morgens auf, um sich und ihre Familie gut in den Tag zu bringen – ein guter Grund. Viele freuen sich am Morgen auf die Projekte, die sie an diesem Tag angehen wollen – ein guter Grund. Manche glauben, weil sie weder Familie noch Projekte, weder Arbeit noch einen Plan haben, sei das Leben nicht wertvoll. Ikigai bedeutet nicht: Entwickle Lösungen zur Rettung der Welt. Ikigai kann klein sein – was kannst du heute tun, damit die Welt ein bisschen schöner wird? Vielleicht ein bisschen Müll am Flussufer aufsammeln, bei der Tafel mithelfen, einen Zettel aufhängen, ob jemand deine Hilfe bei Hausaufgaben, in Garten oder Haushalt braucht, weil du das gut kannst, ein Lächeln, ein freundliches Wort verschenken. Es gibt etwas, das nur du auf deine Weise tun kannst für andere – und wenn du dich für die ausruhst, die heute nicht dazu kommen.

Was magst du heute tun, was andere nicht können?

Hab einen wunderschönen Tag und einen guten Start ins Wochenende!

 

Stephanie hat dieses tolle Foto geschickt, Danke!

Tu, was Liebe weckt

Ich möchte, dass ihr nur diese Eine begreift: Es geht auf diesem geistlichen Wege nicht drum, viel zu denken, sondern viel zu leben. Was am meisten Liebe in euch weckt, das tut.

Teresa von Avila, 1515–1582

Im Japangarten in Holzkirchen, Benediktushof

Reddungsleidstelle

Gestern schlug mir ein Klient vor, mein Türschild in „Rettungsleidstelle“ zu ändern. Auch ein Plan, nur rette ich leider nicht vor Leid, ich unterstütze lediglich darin, damit umzugehen. Nein, nicht mit Leid, das uns widerfährt, darin spräche sich aus, dass ich Opfer von Umständen im Außen bin. Klar, auch das ist möglich, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin und schlimme Dinge geschehen. Vielleicht erfahren wir irgendwann, dass genau das in dem Moment die Aufgabe war, wer weiß.

Wie gehen wir mit Leid um? Indem wir uns klarmachen, dass gerade eine sehr schwer zu bewältigende Last auf uns liegt und wir deshalb müde, traurig, hilf- und ratlos sind, wütend, weinen oder wegrennen wollen. Indem wir die Situation versuchen anzunehmen, was Zeit braucht je nach Herausforderung. Und indem wir versuchen, den allerkleinsten möglichen Schritt zu machen – eventuell können wir einen Atemzug nehmen. Dann noch einen. Das gibt uns Handlungsmöglichkeiten zurück, denn wir sehen: etwas ist machbar. Vielleicht können wir aufstehen und die Last aus einer anderen Perspektive betrachten. Jemanden fragen, der solche Situationen bereits bewältigt hat. Unseren Mastermindmodus einschalten und uns sagen: Wir haben laufen gelernt und vieles mehr. Wir werden auch das schaffen. Step by step. Wenn wir etwas machen können, ist viel gewonnen.

Irgendwann verstehen wir vielleicht, was das Learning an der Sache war. Und viel später erkennen wir eventuell einen Sinn darin, sehen unser Wachstum, unseren Mut und dass wir alle Helden des Alltags sind. Immer wieder aufs Neue. Weil wir jeden Tag das Leben wagen und das ist immer wieder spannend.

 

Einen wunderschönen letzten Oktobertag für dich! Mit viel Grund zur Freude und wenig Sorge.

Das Gewicht dessen, was wir  tragen, ist unterschiedlich. Diese Figur im Garten der Klinik Arlesheim macht das mit Anmut.