Staunen ist etwas, was uns fehlt und nicht zu knapp. Kleine Kinder sind lebendiges Staunen. Ihre Augen, voller Himmel, sind stets voller Staunen. Sie sehen, sie hören alles zum ersten Mal. Sie riechen und schmecken irgendwann alles zum ersten Mal. Je nachdem, ob etwas gefällt oder nicht, sind die Augen riesige Ozeane voller Wunder. Der Kopf liegt im Nacken, die Augen sind groß, der Mund ist offen und das ganze Kind ist mit dem beschäftigt, was es gerade so fasziniert.
Alle Lernenden bekommen von mir immer ein Bild von einem kleinen Jungen mit einer großen Muschel. Das kennst du sicher – du hörst in der Muschel das Meer rauschen, sagen dir die Erwachsenen und reichen dir eine riesige Muschel. Du glaubst es nicht und hältst sie an dein Ohr. Ein Wunder geschieht – das Meer rauscht in der Muschel.
Natürlich nicht! Aber das ist total egal. Du wirst zum Ohr, zum Lauschenden und hörst die Brandung, dein Bewusstsein wird Ohr, wird Ozeanzeuge, wird ein Tor zur Meereswelt. SO darfst du lauschen, wenn du im Gespräch bist. Dich ganz hineinlauschen in das Herz des Gesprächspartners, um keine Sekunde etwas zu verpassen von dem, was gesagt wird, um wahrzunehmen, was zwischen den Zeilen kommt. Dann bist du präsent, wach, im wahren Gespräch. Dann begegnest du dem Wunder.
Wissenschaft ist wichtig, sie hilft uns in vielen Dingen. Staunen auch. Staunen ist, beeindruckt zu sein, ohne sofort die Erklärung zu bekommen, dass etwas gerade nicht wundersam, sondern darstellbar ist.
Als Kind stand ich vor der Schüssel mit dem Hefeteig und war beeindruckt, wie der wuchs. Was für ein Wunder! Aus Mehl, Hefe und Zucker mit Wasser wuchs ein Riesenberg, den man dann zu Dampfnudeln formen und mit Vanillesoße verspeisen konnte. Aus einer grasgrünen Flüssigkeit wurde ein Wackelpudding, der grün und klar war, er wackelte astrein. Magie! Pure Magie! Die Sonne ging unter, die Sterne tauchten auf – Magie!
Ich erinnere mich an meinen ersten bewussten Regen. Ich stand mit meinem Vater vor dem Kinderspielzeuggeschäft. Wir schauten uns das Schaufenster an. Es war großartig. Eine Eisenbahn gab es, einen Teddybären und vieles anderes. Doch das war nichts gegen eine plötzliche Wahrnehmung. Die war mir nicht wirklich neu, keine Frage. Und doch erkannte ich an diesem Tag: „Mir fallen nasse Punkte auf den Kopf!“ Die Erklärung kam sofort: „Das ist doch nur Regen!“ Nein! Das war doch kein Regen! Diese Tropfen sind nasse Punkte. Schau hin – jeder Tropfen malt einen Punkt auf den Boden. Später verstand ich die Enttäuschung des Kleinen Prinzen über die Begrenztheit erwachsener Wahrnehmung.
Einem meiner Lehrer ist es ein stetes Anliegen, uns zum Staunen einzuladen. Er staunt immer – vor allem und jedem. Seine Augen, hinter denen viel Weisheit zu Hause ist, sind stets bereit, das Wunder zu erblicken und das Herz dafür zu öffnen. Anfangs dachte ich mir „naja, Staunen, okay.“ Irgendwann war ich infiziert. Staunen ist großartig. Wann hast du das letzte Mal wahrhaftig gestaunt und nicht das Gehirn in Gang gesetzt, um dir das Wunder zu erklären?
Herzliche Einladung zum Staunen. Über die Wunder der Natur. Über Blumen und Schmetterlinge. Über Menschen, Tiere, Dinge. Steine in Herzform. Karotten, die ein Pärchen bilden. Staub, der im Sonnenlicht tanzt. Zirpende Grillen im Garten. Wie grüner Tee wirkt und wie sauer Johannisbeeren sind. Was immer – nichts ist selbstverständlich. Alles ist ein Wunder.
Ein Wochenende ohne schreckliche neue Wetterunbill wünsche ich allen. Mit Momenten voller Staunen. Mit Sternen und Ruhe und Wundern.
Steffi wollte die Entwicklung der Distel bis zur Samenbildung beobachten. Daraus wird leider nix, denn die Distel fiel, frisch erblüht, dem Mäher zum Opfer. Deshalb freuen wir uns über dieses Foto, das noch möglich war, DANKE.