Abenddämmerung. Meine liebste Zeit in Kindertagen. Jenen Zeiten, in denen Muße war, Dämmerung wirklich zu erleben. Gemütlich auf der Couch sitzend beobachten, was Rilke so zauberschön beschreibt: Wie das Antlitz des Tages seine Gewänder wechselt (was man früher nach der Arbeit noch wirklich getan hat, ein Ritual, um Arbeit und Privatleben klar voneinander zu trennen). Wie langsam gemütliche Dunkelheit erst in die Ecken kroch und dann den Raum einnahm, die Farben sich veränderten, die Augen sich gemächlich umstellten von „ich kann noch problemlos lesen“ bis „ich schaue die Wolken an“. Oft war das eine stille Zeit in meiner Erinnerung, die keineswegs eine Realität abbildet, sondern eher meine Wunschvorstellung dessen, wie es hätte sein können (was Erinnerungen oft an sich haben).
Nimmst du dir ab und an Zeit für das bewusste Erleben von Dämmerung? Jeder Tag hat eine eigene, einmalige. In anderen Ländern geht die Sonne unter und es ist schnell dunkel. Bei uns ist das oft anders. Der Abend reicht dem Tag die Hand und während die beiden sich noch austauschen im leisen Gespräch, senkt sich die Dämmerung über das Land. Früher ließen dann die Autogeräusche nach. Die Lichter in den Häusern gingen an. Wenn ich mit dem Zug zu Seminaren gefahren bin, war ich immer in der Abenddämmerung unterwegs, weil ich gern abends ankomme, um nicht morgens Hektik zu haben. Ich fand es spannend, an den erleuchteten Häusern vorbeizufahren und zu überlegen, was all diese Menschen gerade tun, worüber sie sprechen. Ob sie glücklich sind oder von tiefen Sorgen bedrückt sind. In jedem Haus, an dem ich vorbeigefahren bin, gab es einen unwiederbringlichen Tag mit Erlebnissen, die vielleicht alles auf den Kopf gestellt haben, im Guten wie im Schlechten.
Wo schenkst du dir die Erfahrung des allmählichen Übergangs vom Tag zur Nacht, anstatt von Hektik und geschäftigem Allerlei angetrieben zu sein? Wo erlebst du das Sinken des Lichts und das Umstellen deines Körpers auf Abend bewusst?
Vielleicht heute Abend? An einem besonderen Abend im Jahr, weil einzigartig? Ich wünsche dir eine wunderbare Dämmerung heute Abend. Ein langsames Einhüllen mit Ruhe, mit Runterfahren, mit Loslassen der Tagespflichten und ein Hineingleiten in die Zeit zwischen Tag und Traum.
Für alle, die keine Ferien haben – Stephanie hat das Bild vom Urlaub geschickt und das ist für euch, wenn ihr gerade Ferien möchtet und keine in Sicht sind. Danke für dein Foto!