Freitags-Nachdenk-Input

„Noch einmal ein Vermuten, wo längst Gewissheit wacht“, heißt es in einer weiteren Strophe von Gottfried Benns Asterngedicht. Nach sehr langer Zeit ist mir der Text gestern Abend in einer feinen Eurythmiestunde bei Mainrythmie begegnet. Der Text wurde vorgetragen und zu einer wunderbaren Klaviermusik galt es dann, Bilder für die einzelnen Strophen zu entwickeln, ehe wir dann mit einem gerundeten, hüllenden „B-Laut“ unsere Bilder wie mit einem Nebelhauch überzogen und Nebelgeistern gleich durch den Saal glitten. Diese eine Stunde ist immer eine besondere Zeit. Es ist ein Moment der Pause zwischen all dem, was man so zu tun hat. Eine Stunde Besinnung auf Wesentliches. Kein Ballett, kein Sport, keine Sprache, keine Musik allein, sondern Eurythmie ist eine ganz eigene Form der Bewegungskunst. An der gleichen Stelle wie früher merkte ich auf – „schwälend“. Das Wort hat mich vor vielen Jahren schon beschäftigt. Schwälend klingt nach Glühen, Warten, doch wiederkehrend, vertraut und doch ein spezieller Moment, was sich dann wie auflöst in „noch einmal Vermuten, wo längst Gewissheit wacht“ – wir wissen um den Herbst und den Winter, auch wenn wir es oft in der Farbenglut des Herbstes und dem Aufblühen der letzten Rosen nicht wahrhaben wollen. Und doch – stelle ich jetzt eine abgeschnittene Rose von draußen in die Vase, fällt sie rasch ab. Sie ist das nun Kühle schon gewohnt, das Haus ist ihr inzwischen zu warm.

Götter können nicht nur Stunden, sondern auch Waagen an. Stets stolpert mein inneres Ohr an dieser Stelle, es wartet auf „Uhr“, nicht „Waage“. Und doch ist das Bild so stark, wie die Waage angehalten wird, nur für eine Stunde.

In diesen Tagen wünschen sich viele Menschen, dass man die Uhr ein bisschen zurückstellen und Dinge vielleicht ungeschehen machen könnte. Es passiert viel in diesen Tagen des starken Windes und Sturmes, in dieser bewegten Michaelszeit. Vieles, was einfach nur schlimm ist. Was wir gern nicht hören würden und doch ist es unsere Welt, unsere Zeit. Fragen schweben nach oben – was braucht die Welt, was brauchen die Menschen, was braucht das ganze verwirrte Menschengeschlecht, um sich zu besinnen auf das, was wirklich wichtig ist, um Menschlichkeit als hohen Wert zu betrachten, was bedeutet, niemals jemandem zu schaden, sei es Mensch, sei es Tier, sei es Pflanze oder der Planet. Es ist Zeit, die Kraft dieser Tage aufzunehmen. Stehen wir endlich auf und richten uns auf. Gerad, aufrecht und aufrichtig. Nehmen wir Stellung. Beziehen wir Position. Menschlichkeit ist angesagt. Umdenken. Es geht nur noch Miteinander und zwar indem alle an einem Strang ziehen. Vergessen wir Hautfarben, Religionen und sonstigen Krempel, der Oberfläche ist. Kehren wir zum reinen Menschsein zurück und zu WERTEN. Werte wie Respekt, Achtung, Wertschätzung, VERANTWORTUNG übernehmen für das eigene Handeln, das Denken! Ja, achten wir auf unsere Gedanken … sie formen letztlich unser Schicksal. Dann ist die Waage zwischen hell und dunkel ausgeglichen. Die Zeit ist JETZT. Wir haben keine andere Zeit als diese.

Allen einen tatkräftigen Positionierungsfreitag.

Die Michaelfigur steht im Garten des Goetheanums in Dornach.

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