Der Kastanienbaum
Dort unter dem Kastanienbaum
War’s einst so wonnig mir,
Der ersten Liebe schönsten Traum
Verträumt ich dort mit ihr.
Dort unter dem Kastanienbaum
Ist’s jetzt so traurig mir.
Dort gab ich meinen Schmerzen Raum,
Seit Vanda schied von hier.
Und doch ist’s gar ein lieber Ort,
Erinnrung heiligt ihn.
Es ist kein Zweig, kein Blütchen dort,
Dem sie nicht Reiz verliehn.
Das Windesspiel in dunkler Krone,
Ihr melancholisch Rauschen
Gleicht ihrem bangen Abschieds-Tone
Und zwingt mich, ihm zu lauschen.
Die weiße Blume? War sie nicht
Selbst eine weiße Blüte?
Strahlt Unschuld nicht ihr Angesicht,
Nicht Reinheit, Seelengüte?
Mit zartem Purpurnetz durchstickt
Seh ich die Blume prangen
Und denke, wenigstens entzückt.
An ihre Rosenwangen.
Bald werd ich eine Frucht erschaun
Und sehe dann fürwahr.
Es war ja auch kastanienbraun,
Ihr schöngelocktes Haar.
Nur eines fehlt, des Auges Blau,
Des Liebchens größte Zier,
Das trägt der Baum mir nicht zur Schau,
Das zeigt er niemals mir.
Doch wenn der Frühling wiederkehrt.
Belebt die weite Au,
Da, hoff ich, ist der Baum bekehrt
Und blüht halb weiß, halb – blau.
Theodor Fontane, 1819–1898
2017 blühten in Frankfurt die Kastanien schön. Von der Aussichtsplattform eines Sightseeing-Wagens hat man einen guten Blick.