Dieses Gedicht von Morgenstern liebe ich sehr, weil es eine tiefe Weisheit enthält. Vergänglichkeit macht die Momente kostbar. Unsere Lebenszeit ist begrenzt. Menschen mit schweren Diagnosen erleben das sehr heftig und schlagartig. Dass dem so ist, wissen wir. Wir glauben aber gern, dass wir noch viel Zeit für alles haben. Wir sagen: „Im Sommer“, „Wenn ich dann im Ruhestand bin“, „Wenn die Kinder aus dem Haus sind“, „Wenn xyz“. Niemals oder selten tritt das Wenn ein.
Es geht nicht darum, dass wir sofort und unreflektiert alles haben wollen, was uns in den Sinn kommt. Weder ist das nützlich noch taugt es. Was ist uns wirklich wichtig? Welcher Mensch hat wahrhaft Bedeutung für uns und wir wissen, dass die Zeit mit genau dieser Person ein Geschenk ist? Dann sollten wir es angehen. Wer sich nichts mehr im Leben wünscht als einmal Tintagel gesehen zu haben, sollte nicht warten, sondern reisen, wenn es möglich ist. Wir sehen gerade, dass vieles dann nicht geht, wenn wir es wollen, auch das wird künftig in Überlegungen einfließen müssen, denn es wird nie mehr wie „früher“. Erinnerungen sind Schätze und sie sind in unserem Herzen zuhause.
Verbringen wir Zeit nie unter dem Aspekt des „Totschlagens“ (seltsame Vorstellung!), sondern unter dem Aspekt der Qualität. Streichen wir Dinge aus dem Leben, die uns nicht erfreuen. Gehen wir unsere Kontakte durch und trennen uns von Menschen, die uns Nerven kosten und von denen wirklich gar nie etwas zurückkommt. Überlegen wir uns stets bewusst, wofür wir uns Zeit nehmen. Zeit haben wir alle genug jeden Tag. Die Frage ist, wofür wir sie einsetzen.
Ein großer Teil wird für die Arbeit genutzt. Wichtig hier: Ist es die Arbeit, die ich tun will oder schufte ich vor mich hin unter dem Aspekt „vier Wochen Urlaub im Jahr“? Was nutzen dann diese vier Wochen voller (wahrscheinlich dann auch noch enttäuschter) Urlaubserwartungen gegen 48 Arbeitswochen, zumal wenn wir nicht reisen dürfen? Denkfehler!
Nutzen wir die Krise, um uns zu prüfen, ob wir arbeitstechnisch auf dem Weg sind, auf dem wir sein wollen. Ansonsten ändern. Wofür wir viel Zeit am Tag investieren, sollte etwas sein, das uns begeistert, inspiriert, stärkt und herausfordert! Wofür wir morgens aus dem Bett hüpfen und uns vorfreuen, dass wir es machen dürfen! Jeder Beruf hat Routinen und Ödes, klar. Wenn die Richtung generell falsch ist – haben wir in diesem Jahr nicht verstanden, dass genau das uns und damit die Welt krank macht?
Wie nutze ich meine freie Zeit? Habe ich ausreichend Zeit für Familie, für Freundschaften, Hobbys, Sport und Mahl-Zeiten? Oder ist das alles ein Abarbeiten von „muss ich noch erledigen“, „den muss ich auch noch anrufen“, „die ist sicher schon beleidigt, weil ich mich nicht melde“ – Freunde wissen, wo man steht und wie es einem geht. Sie sind nicht beleidigt, wenn ich mich nicht melde. Sie fragen dann, ob Hilfe gebraucht wird. Das ist der Unterschied zwischen Bekannten und Freunden.
Gibt es Zeit, die ich meinem inneren Wachstum widme? Religion/Spiritualität sind Wurzeln, die uns in solchen Zeiten halten können. Kunst, Kultur, Musik – wichtiger als derzeit waren sie selten. Musik, Kunst generell, sind die schärfsten Waffen, die eine Gesellschaft besitzt. Ein kritischer Geist ist ein Funke, an dem sich vieles entzünden kann. Musiker haben ebenso wie alle anderen Künstler dem Menschen zu jeder Zeit Hoffnung gegeben und gezeigt: du bist nicht allein. Wir sind viele. Unser Herz schlägt im gleichen Rhythmus. Gib nicht auf. Halten wir die Kunst aufrecht, sie ist Futter für die Seelen und wir brauchen sie! Unterstützen wir alles, was Kunst ist, damit die geistige Freiheit und Horizonterweiterung gewahrt bleibt. „Die Gedanken sind frei“.
Wer oder was ist DEIN Anker? Wer oder was erdet dich, hält dich, ermöglicht sicheres Ausruhen in stürmischer See? So, wie Kinder Wurzeln und Flügel brauchen, brauchen wir Anker und den freien Geist, um uns jeden Tag neu zwischen Himmel und Erde einzujustieren, damit wir kraftvoll in unserer eigenen Mitte stehen können.
Allen gute Anker und einen freien Geist. Schweben wir ruhig „über den Wassern“ und verbinden unsere Kraft.
Danke, liebe Sigrid, für das Ankerfoto!