Manchmal ergeben sich Lücken im Terminkalender. Das eröffnet Möglichkeiten, Dinge zu erledigen, die sonst reingequetscht gemacht worden wären.
Seit ich Kind bin, finde ich Zeit faszinierend. Wenn das Pendel der Uhr hin- und herschwang, der Zeiger sehr langsam voranschritt, fragte ich mich, weshalb man Zeit messen muss. Ich wusste, wann ich Hunger habe oder müde bin. Bis heute habe ich keine Armbanduhr, die ich trage, nur eine in einer Schublade, die dann, wenn ich sie bräuchte wegen Zugterminen, mit einer leeren Batterie aufwartet. Uhren braucht man nicht mehr, hörte ich, jeder hat ein Handy, ein Störfaktor im Leben.
Ich war ein Kind, das zwischen Buchdeckeln lebte. Das Auftauchen in die reale Welt empfand ich als weniger schön. Die Menschen eilten hin und her und wollten immer, dass ich etwas mache. Wenn Termine ausfielen, fragte ich mich: Was geschieht nun mit der Zeit, die frei ist? Sofort wurde die Lücke gefüllt mit anderem. Es gab niemals einen Unterbruch in der Zeit, sie blieb nicht stehen, wie es in der Literatur oft beschrieben wurde. Sie lief einfach immer weiter. Ich wollte wissen – hat die Zeit einen Anfang und ein Ende? Wo kommt sie her, wo geht sie hin und wer bestimmt, wie viele Pendelschläge die Uhr macht? Ist in anderen Ländern eine Sekunde länger? Wie lang ist die Ewigkeit? Mein Vater war eines Tages so genervt von meinen Fragen, dass er sagte: „Es gibt ein Gebirge, das ist höher als du es dir vorstellen kannst. Alle 1000 Jahre kommt ein Vogel in das Gebirge und wetzt seinen Schnabel an einem Berggipfel. Und wenn der gesamte Berg abgewetzt ist, ist eine Sekunde der Ewigkeit vorbei.“ Ich war restlos begeistert. Ein solches Land gibt es! Was kann man dann also lesen, bis „eine halbe Stunde“ rum ist! Die Sehnsucht nach diesem Land hat mich niemals losgelassen.
Sehr viel später ist mein Verhältnis zur Zeit immer noch eins mit Fragezeichen. Ich glaube nicht unbedingt an eine Linearität, ein Herkommen aus einer Vergangenheit und ein Hinstreben zu einer Zukunft. Ich empfinde vieles als gleichzeitig, als Wahlmöglichkeit, als Raum, den man betreten kann und wenn man einen anderen nimmt, findet darin etwas anderes statt. Zeit ist für mich inzwischen ein Land mit vielen Zimmern. In manchen ticken die Uhren schnell, in anderen nicht. Wenn ich ganz in dem aufgehe, was ich mache, gewinne ich sehr viel Zeit, habe ich festgestellt. Und an manchen Tagen kocht das Wasser schneller, da bin ich noch gar nicht fertig mit dem Obstschneiden fürs Müsli und schon schaltet sich der Wasserkocher aus. Zeit ist also nicht immer „gleich schnell“. Manchmal zieht sie sich wie ein Käse, oft fliegt sie davon.
Was regen wir uns auf über mangelnde Zeit? Wir haben keinen Mangel an Zeit. Es ist genug Zeit für alle jeden Tag da. Es ist wie mit allem: Da wäre genug. Es kommt darauf an, ob wir uns davon knechten lassen oder mit ihr mitschwimmen. Sie hat so viele Qualitäten, die Zeit. Oft fehlt uns das Staunen darüber. Es gibt eine Zeit für alles.
Jetzt ist die Zeit für bunte Herbstfarben. Für leuchtende Natur. Für Astern, die ihre Strahlen so farbig in den Garten senden und mit den Lampionblumen um die Gunst des Auges streiten. Für wallende Nebel, die Schleier über alles legen, Unschärfen ermöglichen, damit Abstand, Abgetrenntsein, Ruhe. Für warmen Tee, der Zeit zum Vorbereiten, Ziehen und Genießen braucht und damit Pausenzeit ist. Es kommt nicht darauf an, die Zeit vollzustopfen unter dem Motto „wie viel geht in einen Tag“. Es ist wichtiger zu fragen: Wofür möchte ich mir Zeit nehmen? Wenn wir pi mal Daumen rund 85 Lebensjahre auf dem Planeten haben, können wir keine Zeit sinnlos nutzen. Zu schnell ist das vorbei, überziehen die nächsten Generationen den Planeten und wir sind vergessen, Bestandteil einer Ahnenreihe vielleicht. Manchen im Gedächtnis und dann kehren wir ins große Vergessen zurück, aus dem wir hergekommen sind.
Wofür wirst du heute deine Zeit herschenken?
Allen einen liebevollen Venustag.
Steffi hat den bunten Herbstwald fotografiert. Sie wandert diese Woche wieder und hat traumhafte Landschaftsfotos geschickt. Danke!