„Im Detail kannst du oft das Gesamtbild wahrnehmen“, hat mir einer meiner besten Lehrer vor Jahren ans Herz gelegt. Ich solle auf die winzigen Details achten am Menschen, denn sie erzählen die wahre Geschichte. An der Art, wie ein Mensch seine Schuhe schnürt, könne man seinen Charakter erkennen und damit auch sein Schicksal. Das hat mich sehr beeindruckt und fortan versuchte ich mich im Üben. Ach, was übersehen wir nicht alles jeden Tag. Unglaublich. Manchmal denke ich, ich stolpere wie blind durch den Tag mit Scheuklappen direkt vor den Augen. Wunder von Makro- und Mikrokosmos? Never seen.
Wahrnehmung ist das Zauberwort. Unser Gehirn erkennt Menschen grob und dann folgt „ah, der oder die und das bedeutet dieses und jenes“. Als ob die Menschen, die wir sehen, die Menschen wie vor zwei Wochen, drei Jahren oder aus der Grundschulzeit seien. Keine Sekunde sind wir gleich, dauernd vernetzen sich Zellen neu, sterben und wachsen Zellen, erkennen wir oder machen Erfahrungen. Wir sind lebendige Prozesse, doch wir behandeln uns oft, als seien wir Möbelstücke, über dir wir wissen, wie sie sind (oder im Konfliktfall: wie sie zu sein hätten) und wozu sie dienen.
Uns entgeht damit die Schönheit dieser lebendigen Prozesse. Das Ringen um Erkenntnisse, um Entscheidungen, das Für und Wider, der Kampf der Zellen gegen Viren, Bakterien und sonstwas. Wie aus Nahrung Kraft für die Muskeln wird. Wie der kleinste Knochen im Körper (im Ohr) funktioniert und warum das Trommelfell wie der Paukenspieler im Orchester fungiert. Wir merken nicht, wie der Fuß abrollt beim Gehen und welche Handbewegungen wir vornehmen, wenn wir vom zweiten in den dritten Gang schalten und was geschieht, damit aus dem Erkennen der roten Ampel im Auge ein softes Bremsen wird. Wer organisiert das Wachstum von Nagel und Haar und woher weiß mein Magen, was die korrekte Menge an Magensäure ist?
Unser Gehirn schafft den ganzen Tag solche unglaublichen Meisterleistungen und wir füttern es mit Junkfood, verhindern nächtliche Spülungsdurchgänge, weil wir zwei Stunden weniger schlafen als Menschen vor 30 Jahren und sorgen für Ablagerungen, die irgendwann die Reizleitungen dichtmachen, so dass nicht mehr viel durchgeht, weil unsere Lebensführung unterirdisch ist.
Herzliche Einladung – nehmen wir uns doch einfach mal die nächsten Tage ein paar Organe vor und schauen, was sie für uns tun. Warum? Damit wir die Anteile unseres Körpers, die heimlich, still und leise teilweise über Jahrzehnte ohne Mucken ihre Arbeit tun, wertschätzen lernen. Bedenken wir: Ein Team, das Wertschätzung erfährt und Anerkennung für die geleistete Arbeit schafft selbige lieber. Mir ist es angenehm, wenn mein Körper für und nicht gegen mich ist, weil ich nicht wahrnehme, wo es klemmt.
Allen einen sehr liebevollen und wahrnehmungsfreudigen Freitag.
Allen Schulkindern heute einen tollen letzten Schultag mit möglichst wenig Zeugnisstress und wunderschönen erholsamen Ferien. Habt es fein alle!